diplomarbeit

Wissensarbeit im Call-Center?

Die doppelte Subjektivierung der Arbeit am Beispiel der Call-Center Agenten

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[ I Einleitung ]
[ II Wissensarbeit ]
[ III Call-Center-Arbeit ]
[ IV/V Ergebnisse ]
[ VI Fazit ]
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Gutachten zur Diplomarbeit ausgestellt von Prof. Dr. Martin Heidenreich

Die Diplomarbeit von Herrn Zirra analysiert die Tätigkeit von Call-Center-Beschäftigten als besondere Form der Wissensarbeit. Auch wenn diese Beschäftigten keine hochqualifizierten Systemanalytiker sind, so werden von diesen Beschäftigten doch zahlreiche “weiche Qualifikationen” (Selbststeuerungsfähigkeit, Empathie, Kommunikationsfähigkeit, Flexibilität, Qualitätsorientierung, Hilfsbereitschaft) verlangt, die durchaus Gemeinsamkeiten mit den klassischen Wissensarbeitern, den akademisch qualifizierten Professionals, aufweisen. Der Call-Center-Agent ist für den Autor somit ein Beispiel für das Vordringen von Wissensarbeit in immer weitere Tätigkeitsfelder. Diese Entwicklung interpretiert der Autor im Anschluss an M. Foucault als Hinweis auf die Subjektivierung der Arbeit. Herr Zirra unterscheidet drei Facetten dieses Konzeptes und leitet hieraus 13 Hypothesen ab, die er durch die Sekundäranalyse einer von Holtgrewe/Kerst durchgeführten Studie und auf Grundlage eigener Erhebungen überprüft. [»top]


I Einleitung


Die Arbeit ist in sechs Kapitel aufgeteilt. Nach einer knappen Einleitung wird die zunehmende Bedeutung von Subjektivität als Kern eines neuen, wissensgesellschaftlichen Arbeitsmusters beschrieben (Kapitel 2). Anschließend werden die Besonderheiten der Arbeit in Call-Centern auf Grundlage vorliegender Untersuchungen im Spannungsfeld von Objektivierungs- und Subjektivierungsprozessen rekonstruiert (Kapitel 3). Im Anschluss an einen kurzen Überblick über das methodische Vorgehen (Kapitel 4) wird die Studie von Holtgrewe/Kerst, die in der Debatte um Call-Center eine zentrale Rolle spielt, sekundäranalytisch ausgewertet. Dies wird durch begrenzte eigene Erhebungen ergänzt (Kapitel 5). Zum Abschluss werden die Ergebnisse kurz zusammengefasst (Kapitel 6). [»top]


II Der Wandel der Arbeit in der Wissensgesellschaft


Im zweiten Kapitel wird der Arbeitsgesellschaft der Gegenwart als Wissensgesellschaft gekennzeichnet. Neue Arbeitsformen verlangen den Einzelnen “ein gewisses Engagement, eine persönliche Hingabe an seinen Beruf, und die Fähigkeit zur fortwährenden Motivation der eigenen Lern- und Leistungsbereitschaft” (S. 6) ab. Ein solches Engagement wird vor allem in Netzwerkunternehmen gefordert. Die Herausbildung vernetzter Organisationsstrukturen wird als Reaktion auf zunehmend differenzierte und komplexe Umweltanforderungen interpretiert. Damit kommt den Mitarbeitern an den Grenzstellen zwischen Organisationen und Umwelt – etwa den Mitarbeitern in Call-Centern – eine zentrale Bedeutung beim Umgang mit organisatorischen Unsicherheiten zu: “Die These dieser Arbeit ist, dass die Mitarbeiter an diesen Grenzstellen in ihrem Handeln eine gewisse Autonomie besitzen müssen, um ihre Vermittlungsfunktion wahrnehmen zu können.” (S. 16) Mit dieser These gelingt es dem Autor, die organisatorischen und individuellen Dimensionen von Wissensarbeit konzeptionell zu integrieren: “Grenzstellenmitarbeiter sind Wissensarbeiter.” (S. 30)

Nach einer sorgfältigen Rekonstruktion des Wissensbegriffs setzt sich der Autor dann mit den verschiedenen in der Debatte vorgeschlagenen Konzepten von Wissensarbeit auseinander. Anstelle einer Definition schlägt der Autor fünf Merkmale vor, die den Wissensarbeiter idealtypisch charakterisieren: Symbolmanipulation, Lernbereitschaft, kontinuierliche Verbesserung, Aufzeigen von Lösungswegen, aus Erfahrungen lernen (S. 26). Ein geeignetes organisatorisches Umfeld hat deshalb die Autonomie, Flexibilität, Selbstrationalisierung, den Wissensaustausch und die Subjektivität von Wissensarbeit zu berücksichtigen (S. 28).

Anschließend unterscheidet der Autor reklamierende, kompensatorische, ideologisierte und strukturierende Formen von Subjektivität und Subjektivierung. Im Anschluss an M. Weber und insbesondere an M. Foucault greift der Autor die drei erstgenannten Formen auf: Bei der reklamierenden Subjektivität geht es um die Entfaltung und Sinnstiftung in der Arbeit. Die kompensatorische Subjektivität dokumentiert sich in der eigenständigen Bewältigung technisch-organisatorischer Mängel; sie kann als Hinweis auf eine “Unterwerfung durch Subjektivität” (Foucault; zit. auf S. 37) gedeutet werden. Die ideologisierte Subjektivität wird durch einen Diskurs der Selbstverantwortlichkeit hervorgebracht. Als zentrales Ergebnis dieser Diskussion verweist der Autor auf die zentrale Bedeutung von “Technologien zur Internalisierung der Selbstverantwortung, allen voran die Geständnistechnologien” (S. 40). Damit ist es dem Autor gelungen, eine überzeugende, an Foucault orientierte Grundlage zur Analyse von Call-Center-Arbeit zu entwickeln. Auch deutet er ein neues Verständnis von Wissensarbeit an, das neben den “objektiven” Dimensionen von Wissensarbeit (Qualifikationen, Eigenverantwortlichkeit, Flexibilität) die subjektiven Dimensionen (Flexibilitäts- und Lernbereitschaft und persönliches Engagement) stärker in den Mittelpunkt stellt. [»top]


III Die Arbeit im Call-Center


In dritten Kapitel rekonstruiert der Autor die Debatte um Arbeit in Call-Centern (CC) zwischen zwei Extrempositionen: Zum einen werden CC als Beispiel für eine umfassende Kontrolle und Taylorisierung der Arbeit analysiert, zum anderen wird die “Chance auf mehr Subjektivität in der Arbeit” (S. 56). Zum einen werden Call-Center-Agents als “Computersklaven” betrachtet, zum anderen als “aus allen Fesseln befreite Selbstunternehmer”. In enger Anknüpfung an den im Kapitel 2 entwickelten theoretischen Rahmen beschreibt er zunächst CC als ausdifferenzierte organisatorische Grenzstellen, die durch das Dilemma von Rationalisierung und Servicequalität gekennzeichnet sind. Anschließend wird die Kontroverse zwischen “objektivistischen” und “subjektivistischen” Ansätzen durch die widersprüchlichen Anforderungen an Call-Center Agents erklärt. Deren Arbeit sei sowohl durch Routine als auch durch Flexibilität, durch Qualifikationen und Dequalifizierung, durch Überwachung und Selbstüberwachung, durch Fremd- und Selbstkontrolle gekennzeichnet. Letzteres illustriert der Autor in einer beeindruckenden, an Foucault orientierten Analyse am Beispiel von Assessment Centern und Coaching-Verfahren, die er als Mittel zur “Internalisierung der Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung” (S. 64), als “moderne Form der Beichte” beschreibt. Die Call-Center Agents könnten deshalb keinesfalls (nur) als Objekte betrieblicher Kontrollstrategien beschrieben werden, sondern sie seien freie, sich selber bewusste Subjekte. Im Spannungsfeld zwischen einer “objektivistischen” und einer “subjektivierenden” Lektüre von M. Foucault (“Überwachen und Strafen” versus “Wille zum Wissen”) schlägt sich der Autor also eher auf die zweite Seite. Abschließend bündelt er seine Ausführungen in 13 Hypothesen zum “Wissen-Slack” und zur reklamierenden, kompensatorischen und selbst-ideologisierenden Subjektivität. Damit gelingt ihm die argumentative Verklammerung der theoretischen und empirischen Kapitel. [»top]


IV/V Methodische Vorgehensweise,
Ergebnisse der Untersuchung


Im Anschluss an eine kurze Darstellung des methodischen Vorgehens (fünf qualitative und 491 standardisierte Interviews) werden zunächst die soziodemographischen Merkmale der Befragten und ihre Arbeitseinstellungen und -motivationen analysiert. Anschließend werden die verschiedenen Hypothesen zu den drei genannten Formen von Subjektivität durch verschiedene bi- und multivariate Methoden überprüft. Die Hypothesen, die sich auf die reklamierende Subjektivität beziehen, können tendenziell bestätigt werden; subjektive Faktoren scheinen einen größeren Einfluss auf die Bewertung der Arbeit als objektive, soziodemographische Faktoren zu haben. Der Autor folgert: “Eine interessante Arbeit, gute Qualifikationsangebote und Aufstiegschancen sind ihnen bei weitem wichtiger als eine bessere Bezahlung oder kürzere Arbeitszeiten.” (S. 118)

Bei der Rekonstruktion der kompensatorischen Subjektivität greift der Autor zunächst das einleitet erwähnte Grenzstellendilemma auf: Die Arbeit wird von den Call-Center Agents als flexibel und autonom erlebt – trotz eines hohen Routinisierungsgrads (S. 127). Eine abwechslungsreiche, komplexe Arbeit geht mit einer hohen Arbeitszufriedenheit und Arbeitsfreude einher.

Abschließend wird die “selbst-ideologisierte Subjektivität” auf Grundlage der fünf vom Autor durchgeführten Leitfadeninterviews rekonstruiert. Der Autor beschreibt das Teamlernen, die Lernbereitschaft, die Selbstrationalisierung, den Erfahrungsaustausch und das Arbeitsverständnis der Call-Center-Agents: Als Hinweis auf das einleitend entwickelte konstruktivistische Wissensverständnis wird die Tatsache analysiert, dass sich ein Call-Center-Agent gegenüber dem Kunden nicht als ‚Experte’ aufspielt, sondern bereit ist, eine brauchbare Lösung zu recherchieren (S. 132). Abschließend werden die Ergebnisse mit Bezug auf die anfangs entwickelten 13 Thesen resümiert. [»top]


VI Fazit


Zusammenfassend analysiert der Autor Subjektivität als Ressource und Anspruch: Die Individuen “benötigen die Subjektivität als Ressource, um das Grenzstellendilemma einer zunehmend vernetzten Gesellschaft zu kompensieren. Sie reklamieren sie, da sie selbst den Wert des sich-selbst verantwortlichen und damit sich selbst-unterworfenen Subjektes internalisiert haben.” (S. 139) [»top]


Bewertung


Die Arbeit von Herrn Zirra rekonstruiert auf hervorragende Weise die Debatte um den Wandel der Arbeit in einer wissensbasierten Gesellschaft. Gleichzeitig analysiert er die Arbeitssituation und die Arbeitseinstellungen von Call-Center-Agents auf Grundlage eigener Erhebungen und einer schon vorliegenden Studie. Die Arbeit ist klar gegliedert, empirisch fundiert, überzeugend formuliert und theorie- und hypothesenorientiert geschrieben. Die einschlägige Literatur wird souverän genutzt und kenntnisreich resümiert. Die anfangs in Anlehnung an M. Foucault entwickelten theoretischen Konzepte werden konsequent durchgehalten und zur Strukturierung der empirischen Analysen genutzt. sind eng aufeinander bezogen. Dem Autor gelingt es, mit den Konzepten der Netzwerkunternehmen und der Grenzstellen die organisatorischen und individuellen Dimensionen von Wissensarbeit zu verkoppeln. Insgesamt ist die Arbeit von Herrn Zirra ein eindrucksvolles Beispiel für eine theoriegeleitete empirische Analyse, die quantitative und qualitative Verfahren souverän kombiniert.

Aufgrund der genannten Stärken bewerte ich die Diplomarbeit von Herrn S. Zirra mit

Sehr gut (1,0)


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